Mittwoch, 16. September 2020

🇨🇭 Auf Wiederluarge

 

Nach dem Regen am Donnerstag abend hingen die Wolken am Freitag im Tal. In den Bergen findet sich dann trotzdem oft ein Plätzchen oberhalb der Wolken. Früher hörte ich im Radio auf das Zauberwort „Wolkenobergrenze", heute suche ich die Bilder der webcams an den Bergstationen. Das erste Freitagsziel war gefunden: Mit der Standseilbahn hoch zum Muottas Muragl (2.453 m), dem Ausflugsberg zwischen Samedan und Pontresina mit Ausblick über das Oberengadin mit der Engadiner Seenplatte und auch zum Piz Corvatsch. Die  Muottas Muragl-Bahn (MMB) hat eine Streckenlänge von 2.199 m und überwindet 709 m Höhendistanz, sie wurde 1907 eröffnet und ist die älteste Bergbahn im Engadin. Ich genoss erst einmal Sonne und Ausblick und wanderte dann den Panoramaweg entlang und runter nach Pontresina, um dort noch einen Sessellift zu finden, der mich mit der Freikarte wieder hoch brachte zur Alp Languard (2.325 m). Die hätte ich mit dem Panoramaweg auch gleich erreichen können, ohne Abstieg. Von der Bergstation des Sessellifts wanderte ich in etwa 45 Minuten steil hoch zur Paradis Hütte mit Blick auf den Rest des Morteratsch-Gletschers, diese Mal aus 2.540 m Höhe. Auf dem Rückweg über das Languard-Tal sah ich einige Murmeltiere an ihren Bauten und wunderte mich, wie wenig scheu sie sind. In dieser Region wurden auch Steinböcke wieder angesiedelt, die sah ich aber nicht. Nach Pontresina ging es wieder mit dem Sessellift. Das ist auch nichts für jede Frau und jeden Mann:  Mit Talblick im Sesselllift 500 Höhenmeter überwinden, oft in 30 m Höhe. Es dauert etwa 10 Minuten, inklusive Umlenkstelle mit etwa 135 Grad und entsprechender Schaukelei. Ich spazierte noch durch den Ort und wartete dann auf den Bus zurück zum Hotel. Auch Pontresina wirkte auf mich wie ein Wintersportort, der ein paar Angebote für Mountainbiker und Wanderer ins Programm aufgenommen hat.

Am Samstag nahm ich gegen 08:00 Uhr den Zug in Richtung Chur und fuhr über Reichenau-Tamins und Disentis nach Andermatt. Es ist die Route des Glacierexpress, nur eben mit Umstiegen.  Andermatt wurde 1203 erstmals urkundlich erwähnt, das Benediktinerkloster Disentis hatte in dem Raum aber wohl schon früher Grundrechte, die erst Mitte des 17. Jahrhunderts abgelöst wurden. Reiste Goethe hier noch 1797 zu Fuß, so gewann der Ort durch den Bau des Gotthardpasses (1818-1830) sowie von Oberalp- und Furkapass an Bedeutung als Handels-, Ferien- und Kurort. Die Eröffnung des Gotthard-Eisenbahntunnels 1882 war dann jedoch ein ziemlicher "Schlag ins Kontor", auch wenn der Tourismus der reichen Engländer im 19. Jahrhundert wirtschaftlich eine Rolle spielte und sich durch den Bau des  Grandhotel "Bellevue" auch architektonisch widerspiegelte. Dann kam der zunehmende Autoverkehr  am Gotthard und Aktivitäten des Schweizer Militärs, man hatte wohl vor Ort sein Auskommen. Der Tourismus spielte eine untergeordnete Rolle. Doch seit Anfang der 2000er hat Samih Sawiris, ein Investor aus Kairo, der in Berlin studiert hat, den Ort entdeckt. Er arbeitet seitdem mit dem Immobilienentwickler und Hotelbetreiber Orascom Development Holding an dem Plan in Andermatt das größte Luxusresort der Alpen zu errichten, das "Feriendorf Andermatt Reus": 4-5* Hotels, Ferienwohnungen, Villen plus neues Skigebiet und Golfplatz. Erfahrungen hat Sawiris dafür in Hugharda gesammelt. Es entstand die SkiArena Andermatt-Sedrun mit Investitionen in Höhe von 130 Millionen Franken für neue Transport-  und diverse Beschneiungsanlagen. Das Gebiet umfasst über 120 Pistenkilometern mit 22 Anlagen und ist damit das grösste Skigebiet der Zentralschweiz. Den Änderungen im Planungsrecht  zur Umsetzung der Investionsprojekte auf ehemaligem Militärareal oder landwirtschaftlichen Flächen haben die Stimmbürger*innen der betroffenen Gemeinden jeweils zugestimmt: Andermatt mit 96%, Hospental 88%. Im Jahr 2018 genehmigten außerdem die Stimmberechtigten in Tujetsch (85% Zustimmung) den Verkauf der ehemals gemeindlichen Aktien an den Sportbahnen Sedrun an Sawiris' Gesellschaft Andermatt-Surselva Sport zur Einrichtung der neuen SkiArena. Das ist schon eine engere Beteiligung der Bevölkerung, als bei uns mit Auslegung und Widerspruchsmöglichkeiten. Es muss sehr konkret um die Zustimmung geworben werden. Nach der Verschlechterung der Zugverbindungen nach Andermatt nach der Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels im Dezember 2016 wurden 2017 Busverbindungen eingeführt, um die Gäste aus Zürich, Luzern oder Basel direkt an die Talstation in Andermatt zu bekommen. Die Busfahrkarte beinhaltet gleich die Tageskarte für die Piste. Außerdem hat die  SkiArena flexible Preise für Skitickets eingeführt: Je früher man bucht, desto günstiger die Tarife.

Ich übernachte im Radison im neuen Feriendorf: Kurzer Weg durch den neuen Bahnhof - in dem es auch gleich einen Zugang zur neuen Bergbahn gibt - und unter der Gotthardstrasse durch, sehr modernes Design, lockere, freundliche Atmosphäre. Im Zimmer werden die benachbarten Wohnungen zum Kauf angeboten mit dem Hinweis, dass die üblichen "Zweitwohnungsregeln" der Schweiz nicht gelten. Und jetzt endlich weiß ich auch, wo zumindest die Schweizer Millionäre sind: Mit Labourgini, Jaguar, Porsche oder Maserati über die Pässe und dann  in Andermatt übernachten. 

Nach dem Einchecken im Radisson machte ich mich auf nach Oberwald (1.366 m) zur Station der Furka-Bergbahn. Der Bau der Zahnradstrecke über den Furkapass wurde 1911 von der Brig-Furka-Disentis-Bahn (BFD) begonnen und 1915 aufgrund der durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges bedingten finanziellen, technischen und personellen Probleme eingestellt. Nach dem Konkurs der BFD im Jahr 1923 wurden die Bauarbeiten 1924 von der neu gegründeten Furka-Oberalp-Bahn  mit Unterstützung der beiden benachbarten Bahngesellschaften Rhätische Bahn und Visp-Zermatt-Bahn wieder aufgenommen und die Strecke 1925 eröffnet. 1942 wurde die Strecke elektrifiziert. Wegen der schwierigen Lawinensituation war die Bergstrecke nicht wintersicher: Im Spätherbst wurden die Fahrleitung abgebaut sowie die Steffenbachbrücke zusammengeklappt. Alle Tunnelportale wurden mit Toren verschlossen. Aufgrund der fast siebenmonatigen Winterpause und den anschliessend jeweils nötigen Aufräum- und Instandsetzungsarbeiten war der Betrieb sehr aufwändig und kostspielig. Mit der Eröffnung des Furka-Basistunnel 1982 wurde der Betrieb eingestellt. Die Strecke wird jetzt im Sommer zwischen Realp und Oberwald von einem historischen Dampfzug und einem Dieselzug befahren. Die Steffenbachbrücke wird immer noch im Herbst ab- und im Frühjahr wieder aufgebaut. Mehr zum Zug hier. Die Fahrt im Dampfzug muss man auf jeden Fall reservieren. Die Fahrt im Dieselzug ist mit der Gästekarte kostenlos, im Dampfzug gibt es 20% Rabatt. Das Interrail-Ticket gilt in keinem der beiden Züge. Da hatte mich das Reisebüro falsch informiert, aber ich hatte ja die Gästekarte im Hotel bekommen. Wir waren etwa zwölf Leute im Dieselzug. Der Dampfzug, dem wir in Glesch begegneten, war ausgebucht. Die Fahrt ging spektakulär hoch bis Gletsch, am Fuße des Rhône- Gletschers, dort hat der Dieselzug etwa eine Stunde Aufenthalt. Den nutzte ich für einen Besuch im Museum mit Bildern des Rhône-Gletschers, einen Spaziergang in Richtung Gletscher und einen Kaffee an der Passstrasse, wo schnelle Cabrios und viele Motorräder vorbeifuhren. Aus dem Tal sieht man den Gletscher inzwischen nicht mehr, nur noch die Wasserfälle mit dem Schmelzwasser. Mit dem Zug ging es weiter hoch bis auf die auf die Passhöhe in Furka (2.163 m)und dann in Kurven und Tunneln wieder runter nach Realp (1.546 m) und von dort zurück nach Andermatt. 

Am Sonntag fuhr ich wieder durch den Furkaturmel nach Brig und weiter nach Bern. Die Wärme im Tal war unerwartet nach all den Tagen in den Bergen. Am Montag spazierte ich bei um die 28 Grad mit Freunden durch die Stadt. Wir besuchten die Bären im "neuen" Gehege (2009) statt im traurigen Bärengraben und sahen den Leuten zu, die sich von der Aare hinabtreiben ließen. Am Dienstag wanderten wir etwas in der Gegend am Längenberg mit Blick auf die Alpen. Der Mittwoch startete mit einer Radtour in der Umgebung von Grossaffoltern und Rapperswil mit Blick auf den Jura und Kaffeepause im Hotel Sonne (https://www.sonne-scheunenberg.ch). Später fuhren wir nach Solothurn, dem Hauptort des gleichnamigen Kantons am Fuße des Jura. Die Stadt hat etwa 17.000 Einwohner. Wegen des früheren Sitzes der französischen Botschaft (16.–18. Jh.) wird Solothurn traditionell «Ambassadorenstadt» genannt. 

Abends ging es noch gemeinsam zum Yoga. Danach packte ich sehr entspannt meinen Rucksack wieder, morgen geht es nach Venedig. 

Am 27. September stehen in der Schweiz landesweit wieder verschiedene Initiativen zur Abstimmung, darunter  eine zur Begrenzung der Zuwanderung aus den EU-Mitgliedstaaten, eine zur Änderung des Jagdgesetzes - da geht's hauptsächlich um die Bedingungen für den Wolfsabschuss - eine Initiative zur Bereitstellung des Budgets von bis zu 6 Milliarden Franken zum Kauf neuer Kampfflugzeuge und eine für das Recht auf einen zweiwöchigen (!), bezahlten Vaterschaftsurlaub in der Schweiz. Die Gegenargumente beim letzten Thema wären in Deutschland von Arbeitgeberseite auch nicht viel anders: zu teuer, schädlich für die Wirtschaft, gerade für KMU und wer will, kann doch einfach Urlaub nehmen und eines finde ich noch besonders zukunftsweisend in einer alternden Gesellschaft "Es ist missbräuchlich, alle bezahlen zu lassen, damit einige wenige mehr Zeit mit ihrem neugeborenen Kind verbringen können." Die Stimmbürger bekommen zu den Themen jeweils ein Informationspaket mit den Inhalten, die zur Abstimmung stehen, den Pro- und Kontra-Argumenten sowie einer Empfehlung der Regierung, die heißt hier Bundesrat, und des Parlaments. An im Schnitt vier Terminen pro Jahr stehen die Abstimmungen an, dazu kommen noch Themen des Kantons oder der Gemeinde, z.B. zu Budgetfragen. 





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