In den letzten Tagen bin ich sowohl in meiner Geburtsstadt Hagen unterwegs gewesen, als auch nach Wuppertal gefahren, wo ich als Kind oft bei meiner Tante zu Besuch war.
Meine Tante wohnte unterhalb der Ronsdorfer Talsperre in einem Haus neben einem alten Sägewerk und mit Forellenteichen. Die Talsperre wurde 1899 als Trinkwasserreservoir für die damals noch selbständige Stadt Ronsdorf in Betrieb genommen und bis 1957 genutzt. Die Staumauer war seit den 1960ern in schlechtem Zustand, wurde aber erst in den ersten 2000-er Jahren saniert. Der Wald war in den 1960ern mein Spielplatz an Wochenenden und oft in den Ferien, in den Forellenteichen habe ich schwimmen gelernt. Es war immer was los, oft waren Freunde meiner Verwandten mit Autos oder Mopeds da, an denen immer was zu staunen oder zu schrauben war. Vor fast 50 Jahren zogen meine Verwandten von der Talsperre weg, irgendwann wurden alle Gebäude abgerissen, nur die Teiche sind bis heute geblieben. Heute ist die Staumauer saniert, aber unterhalb im Saalbachtal kann man kaum noch was erkennen von der alten Struktur, die Natur hat sich die meisten Flächen zurückgeholt. Ich konnte mir vor Ort auch gar nicht mehr vorstellen, wo das Haus, der Hof, der Schuppen mit dem Autowrack und das Sägewerk waren. Irgendwie war das alles viel größer, als ich kleiner war. Der Ablauf vom Fischteich, in dem ich im Autoreifen die ersten Schwimmübungen gemacht habe, war in der Erinnerung ein großer Wasserfall, an dem es Mutproben zu bestehen gab, schwer vorstellbar bei einer Höhe von maximal einem Meter. Die Highlights meiner Kindheit dort waren Ausflüge zum Minigolf und zum Eis essen weiter unten im Tal und Wanderungen durch den Wald zum Wuppertaler Zoo, immerhin gut acht Kilometer, zurück ging es dann mit dem Zug.
In Hagen bin ich zu Fuß herumspaziert und habe mich über sanierte Häuser und schöne Graffitis im Stadtteil Wehringhausen gefreut und über die Verdichtung durch Einfamilienhäuser in 2. Reihe in den attraktiveren Lagen gewundert. Gleichzeitig war es erschreckend zu sehen wie heruntergekommen viele Ecken sind. Hagen hat, wie viele Städte in dieser Gegend, eine wechselvolle Geschichte, deren wirtschaftliche Bedeutung durch die Nutzung der Wasserkraft seit dem 17. Jahrhundert wuchs und mit dem Strukturwandel in der Stahlindustrie wieder abnahm. Es gab anfangs mehrere wasserkraftbetriebenen Hammerwerke und Schmieden. Im Jahr 1848 wurde Hagen an das Netz der Bergisch-Märkischen Eisenbahngesellschaft angeschlossen und entwickelte sich zu einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt, im 20. Jahrhundert kamen die Autobahnen A1 und A45 dazu. Urbanisierung und Industrialisierung brachten Aufschwung und auch kulturelle Highlights: Der Bankier und Mäzen Karl Ernst Osthaus holte in den frühen 1900er-Jahren viele später bedeutende Architekten wie Henry van de Velde, Peter Behrens und Walter Gropius in die Stadt. So finden sich in Hagen auch heute noch neben dem Karl Ernst Osthaus Museum mit seiner Expressionistensammlung architektonische Beispiele von Jugendstil und Moderne. Die Wohlhabenden bauten sich seit dem 19. Jahrhundert Villen an die Talhänge, im Tal baute man Mehrfamilienhäuser. Der Innenstadtbereich wurde durch mehrere Bombenangriffe 1943, 1944 und 1945 fast vollkommen zerstört. Hagen blieb bis in die 1970er Industriestadt: Es entstand 1847 ein großes Hochofen- und Stahlwerk, die Hasper Hütte von Peter Klöckner.
Seit den 1980ern ist Hagen dann meist überregional nur noch bekannt als Sitz der Fernuniversität Hagen und als Herkunftsort der beiden Humpe-Schwestern-Anette (Neonbabies, ich&ich) und Inga (Neonbabies, 2Raumwohnung)-, von Susane Kerner, kurz: Nena und Extrabreit. Bis 2002 kam auch der Brandt-Zwieback noch aus Hagen, jetzt kommt er aus Thüringen, Douglas zog 2016 aus Hagen nach Düsseldorf, Hussel und Thalia haben noch ihre Firmensitze in Hagen.
Hagen war schon in meiner Kindheit in den 1960ern und 1970ern eine internationale Stadt mit vielen Zuwanderern. Ich spielte mit Kindern, deren Eltern aus der Türkei oder aus Italien kamen. Die Väter arbeiteten bei Stahlfirmen, bei Speditionen oder bei der Bahn, die Mütter bei Zwieback Brandt am Fließband. Nach der Schließung der Hasper Hütte und weiterer Betriebe verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage in der Stadt deutlich schneller, als es die Stadtpolitik wohl wahrhaben wollte. Die Fernuniversität brachte zwar neuen internationalen Ruhm, aber vor Ort wenig Veränderungen, da die Studierenden und Profs ja meist nur zu Prüfungen vor Ort waren und sind. Jetzt ist es in den ärmeren Stadtteilen, unten im Tal oft erbärmlich, in manchen Wohnquartieren wird seit Jahrzehnten nichts mehr investiert, es gibt Leerstand und Ecken wo viele Zuwanderer unter extrem schlechten Bedingungen leben, oft Romafamilien. An Häusern stapelt sich Müll und auf dem Fußweg liegt dann auch mal eine tote Ratte. Wer sich mehr leisten kann, zieht weg und diese Ecken werden immer unattraktiver. Wie in Schwedt (Oder) oder Frankfurt (Oder) werden jetzt auch in Hagen alte Gebäude abgerissen. Von einem ganzen Block mit Gründerzeithäusern nah der Bahnstrecke, in dem früher mal eine Freundin gewohnt hat, fand ich nur noch sortierte Schuttberge. Hier soll wohl eine Schule gebaut werden. Und was sagen die verbliebenen Hagener dazu: Wir haben so eine schöne Umgebung, wir wohnen günstig - verglichen mit Dortmund oder Düsseldorf - und man ist mit dem Auto schell in den heute wichtigen Zentren der Region. Ich staune über die hohen Preise im Verkehrsverbund VRR im Vergleich zu Berlin und Brandenburg, bei den Verbindungen merkt man deutlich die vielen Städte und ihre lokalen Einzelinteressen, das ist in und um Berlin - mit 100 Jahren Übung in „Grossberlin“ - deutlich homogener und kundenfreundlicher.
Zu den schönen Gegenden, direkt am Stadtrand in Richtung Dortmund gehört der Hengsteysee mit Staumauer und dem ehemaligen Pumpspeicherwerk für den Spitzenlastbedarf, heute nicht mehr in Betrieb.
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