Sonntag, 11. Oktober 2020

🇩🇪 Touristin zu Hause

Am Donnerstag vor einer Woche fuhr ich von Rüdesheim nach Hause. Am folgenden Freitag freuten wir uns über unseren 11. Hochzeitstag und am Samstag begann eine weitere Entdeckungsphase in Berlin und Brandenburg. Wir kauften uns wieder eine Jahreskarte für die Staatlichen Museen in Berlin und besuchten am Samstag die Sonderausstellung „Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme“ in der James-Simon-Galerie. Ich lernte, dass es die Germanen nie als Volk oder Staat gab, sondern es Gemeinschaften waren, die zwischen dem 1. Jahrhundert vor und dem 4. Jahrhundert nach Christus die Gebiete rechts des Rheins und nördlich der Donau besiedelten. Caesar nannte sie „Germanen“. Zu sehen sind einfache Gebrauchsgegenstände einer Agrargesellschaft, aber auch üppige Beigaben aus Silber, Gold und Glas aus Gräbern der Reicheren. Es gibt auch Funde zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den germanischen Stammesverbänden untereinander. In einem zweiten Teil der Ausstellung geht es um die museale Rezeption des Blicks auf die Germanen in den Berliner Museen im 19. und 20. Jahrhundert mit dem Titel „Germanen. 200 Jahre Mythos, Ideologie und Wissenschaft“.

Danach besuchten wir noch die Sonderausstellung „Chaos & Aufbruch- Berlin 1920|2020“ im Märkischen Museum. Am 1. Oktober 1920 wurden durch das „Groß-Berlin-Gesetz“ 27 Gutsbezirke, 59 Landgemeinden sowie die bis dahin selbständigen Städte Charlottenburg, Köpenick, Lichtenberg, Neukölln, Schöneberg, Spandau und Wilmersdorf nach Berlin eingemeindet. Die Einwohnerzahl wuchs auf 3,8 Millionen, das Stadtgebiet wurde 13x größer. Berlin wurde neben New York und London zu einer der größten und bevölkerungsreichsten Städte der Welt. Ich lernte mehr über die verschiedenen politischen Ansätze, die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Stadt für alle zu verbessern, auch durch eine einheitliche Verkehrs- und Siedlungspolitik. Ein  praktisches Ergebnis der Arbeit des ehemaligen Verkehrsstadtrats Ernst Reuter sehe ich in der BVG und seit der Wende auch dem vbb, die den öffentlichen Nahverkehr einfacher und günstiger machen, als es z.B. in NRW geht mit den vielen Tarifgrenzen und damit viel höheren Preisen: Die rund 35 km Hagen- Wuppertal kosten im VRR 12,80€ pro Richtung, Potsdam-Köpenick oder Potsdam- Bernau (je ca. 50 km) gerade mal 3,60€. Vom Märkischen Museum spazierten wir noch etwas durch die Gegend und besuchten dann die autofreie Friedrichstraße. 

Am Mittwoch bin ich mit dem RE 1 nach Brandenburg an der Havel gefahren, um das Archeologische Landesmuseum zu besuchen und etwas durch die Stadt zu spazieren. Die Brandenburg war eine slawische Niederungsburg im 8. bis 12. Jahrhundert auf der Havelinsel, auf der heute u.a. der Dom St. Peter und Paul steht. Die Sammlung des Museums umfasst Fundstücke aus der Region, die heute das Bundesland Brandenburg umfasst und auch darüber hinaus, da die politischen Grenzen der Mark Brandenburg bis ins 19. Jahrhundert weiter im Westen (Altmark, Salzwedel) bzw. im Osten (Neumark,  heutige polnische Woiwodschaften Westpommern  und Lubuskie) lagen. Die ältesten Fundstücke des Museums stammen aus der Steinzeit, sind also rund 130.000 Jahre alt: Faustkeile, Pfeilspitzen, Textilien, Schmuck und Schädel. Es gibt Funde aus der Zeit des Neandertalers vor rund 50.000 Jahren. Das älteste Gräberfeld Deutschlands ist auf dem Weinberg bei Groß Fredenwalde in der Uckermark gefunden worden, es ist etwa 7.000 Jahre alt. Die Ausstellung zeigt auch, dass es verschiedene Phasen der Zu- und Abwanderung in der Region gab. Die germanischen Stämme zogen im 5. Jahrhundert Richtung Oberrhein und Schwaben weiter, die Slawen kamen im 6. und 7. Jahrhundert her. Albrecht der Bär (Askanier) eroberte 1157 die Brandenburg und holte Handwerker und Bauern, die aus der Altmark, dem östlichen Harzvorland, Flandern (Fläming) und den Rheingebieten kamen, sie brachten neue Technologien mit. Außerdem lockte man Holländer zur Trockenlegung der Havel- und Elbniederungen mit Land und Steuerprivilegien. Die Orte Angermünde, Eberswalde, Frankfurt, Perleberg, Prenzlau, Spandau und Berlin erhielten unter den Askaniern das Stadtrecht. Berlin-Cölln wurde 1261 Residenzstadt der Askanischen Markgrafen. Die Mittelpunkte des geistlichen Lebens  waren die Bistümer Brandenburg, Havelberg und Lebus sowie die Klöster Lehnin,  Chorin und Zinna. Mit dem Tod Ottos IV starb das Geschlecht der Askanier, ab 1320 bestimmten Wittelsbacher und später Luxemburger etwa 100 Jahre die Entwicklung. Die Goldene Bulle von 1356, das „Grundgesetz “ des Hl. Römischen Reichs bestätigte die Stimme der Markgrafen von Brandenburg als Kurfürsten, also der zehn ranghöchsten Fürsten, bei der Königswahl. Ab 1618 regierten die Kurfürsten von Brandenburg in Personalunion auch das Herzogtum Preußen. Im 18. Jahrhundert bildete sich nach der Königskrönung Friedrichs III. von Brandenburg die Monarchie Preußen als ein neuer europäischer Staat. Damit wurde die Markgrafschaft faktisch eine Provinz Preußens. Die formelle Gründung der Provinz Brandenburg erfolgte 1815 nach der Neuordnung Preußens durch den Wiener Kongress. 

Bei einem Spaziergang durch die Stadt entdeckte ich unerwartet viele sanierte Fachwerkhäuser und auch Jugendstilgebäude. Am Nicolaiplatz besuchte ich die Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde. In den Gebäuden des ehemaligen "Alten Zuchthauses" Brandenburg an der Havel wurde 1939 eine von sechs Mordstätten der sogenannten "Aktion T 4" eingerichtet. In den Jahren 1940/41 wurden über 70.000 kranke, behinderte oder als „asozial“ stigmatisierte Menschen ermordet. In der „Landespflegeanstalt Brandenburg a. H." wurden zwischen Januar und Oktober 1940 ca. 9.000  Menschen aus psychiatrischen Krankenhäusern des nord- und mitteldeutschen Raums einschließlich Berlins durch Giftgas getötet. Offiziell ist die Gedenkstätte eigentlich nur Donnerstag bis Sonntag geöffnet, aber man kann auch an den anderen Tagen klingeln und wird (vielleicht) eingelassen. 

Am Freitag war ich in der Alten Nationalgalerie, zuerst in der Sonderausstellung zum belgischen Symbolismus „Dekadenz und dunkle Träume“: Bilder voller morbider, dekadenter oder dämonischen Motiven, Darstellung der femme fatale als Ausdruck von Überfluss und Wollust von Malern wie den Belgiern Fernand Khnopff und James Ensor oder des Deutschen Franz (von) Stuck. Ich lernte, dass aus Belgien viele Impulse für die Entwicklung des Symbolismus sowohl in Richtung Paris, wie auch London erfolgten und auch, dass der Salon „Les Vingt“ in Brüssel zwischen 1883 und 1893 viele internationale Künstler mit den Belgiern zusammenbrachte, darunter Cezanne, Gauguin, Seurat, van Gogh und Klimt. Die Sammlung der Alten Nationalgalerie war deutlich geringer besucht, als die Sonderausstellung, aber auch wieder interessant. Man sieht ja immer wieder was Neues, auch in bekannten Bildern. 
Gestern machten wir einen „Samstagsausflug" nach Schöneberg. Wir starteten auf der „Roten Insel“, einem Siedlungsbereich im Gleisdreieck zwischen Ringbahn, S1 (Wannseebahn) und S2 (Dresdner-Bahn) zwischen dem Südkreuz und den Yorckbrücken. Die Leberstraße ist die zentrale Strasse im südlichen Teil dieser Siedlung zwischen Kolonnenstraße und dem EUREF-Campus mit dem Gasometer. Im EUREF-Campus stehen die Themen Energie, Mobilität und Nachhaltigkeitarbeiten im Fokus. Es arbeiten, forschen und lernen dort auf ca. 5,5 ha etwa 3.500 Menschen.
Die Bebauung der Insel begann Ende des 19. Jahrhunderts um 1870 und war bis 1918 weitgehend beendet. Es gab zwei maßgebliche Bebauungspläne, einer von 1884, der andere von 1892/1893. Neben den typischen Gründerzeithäusern mit Hinterhöfen, befinden sich die runde, evangelische Königin-Luise-Gedächtniskirche am Gustav-Müller-Platz, die katholische Elisabethkirche an der Kolonnenstrasse und zwei Friedhöfe auf der Insel, der  Zwölf-Apostel- und der Alte St. Matthäus-Kirchhof (1856) an der Großgrörschenstrasse. Die Insel überdauerte die Nazipläne für die „Welthauptstadt Germania“, die ihren kompletten Abriss vorsahen sowie die Luftangriffe auf Berlin weitgehend unbeschadet und auch die Planung ab 1965 bis in die 1990er für eine „Westtangente“ als Verlängerung der Autobahn (A103) vom Schönebeger Kreuz nach Norden, inklusive Tiergartentunnel, die dann als Teil der Hauptstadtplanungen ab 1995 für Autos und Bahn (2006) sowie für die U-Bahn (2009) gebaut wurden. Allein der Alte St. Matthäus-Kirchhof wurde in den Jahren 1938 und 1939 verkleinert, ein Drittel der Grabstätten im nördlichen Teil wurde auf den Südwestkirchhof in Stahnsdorf umgebettet, darunter das Grab von Gustav Langenscheidt. Auf dem Alten St. Matthäus-Kirchhof sind heute nicht nur die Brüder Grimm, Rudolf Virchow, Paul Parey, Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg und Carl Bolle - der mit dem Milchwagen - begraben, sondern auch Rio Reiser und Christian Franz Klusáček alias Chris Roberts. Zu Beginn dieses Jahrhunderts richtete der Verein „Denk mal positHIV“ einen Ort des Gedenkens und der Bestattung für Menschen mit HIV und AIDS ein. Der Verein EFEU e. V. (Erhalten, Fördern, Entwickeln, Unterstützen) kümmert sich seit 2007 um Erhalt und Pflege des Friedhofs und macht Öffentlichkeitsarbeit, seit 2008 gibt es ein Vereinsprojekt zu „Sternenkindern“, eine Ruhe- und Gedenkstätte für Fehlgeburten, Totgeburten und Babys, die während oder kurze Zeit nach der Geburt gestorben sind. 



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